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Mit Geschichten begeistern

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Seit einiger Zeit ist der Begriff Storytelling wieder in aller Munde. Ob in der Fernsehwerbung, im Online-Marketing oder auch im E-Learning – überall will man eine möglichst packende Geschichte erzählen. Doch woran liegt das eigentlich?

Geschichtenerzählen liegt uns Menschen im Blut: Ob in Höhlenmalereien, oralen Traditionen im Feuerschein oder in den neuen Medien – wir haben uns schon immer gegenseitig Geschichten erzählt und dabei ganz nebenbei (überlebens)wichtiges Wissen weitergegeben. Geschichten gehören quasi zum Kern unserer menschlichen Existenz.

Aber warum funktionieren Geschichten so gut als Mittel, um Informationen weiterzutragen? Die meisten von uns werden sich an den Deutschunterricht und die dort behandelte Dramenanalyse zurückerinnern können: Spannungsbogen und 5-Akt-Struktur, Exposition und Katastrophe – das ruft erst einmal keine Spannung hervor. Dabei ist ein Blick auf die Grundstrutkur von Geschichten gerade das, was uns eine Antwort auf unsere Frage liefern kann.

Der Meinung war auch der amerikanische Mythenforscher Jospeh Campbell, als er 1949 sein Buch The Hero with a Thousand Faces veröffentlicht. In diesem befasst er sich ausführlich mit dem Motiv der Heldenreise, eine Universalstruktur, über die sich Erzählungen aus allen Kulturen und Epochen beschreiben lassen: Vom Ruf des Abenteurers und der Weigerung, diesem Ruf zu folgen, über GegnerInnen und Prüfungen bis hin zur Rückkehr in die ursprüngliche Welt beschreibt Campbell 17 unterschiedliche Stationen, von denen sich einige – wenn nicht sogar alle – in allen uns bekannten Geschichten wiederfinden.

Campbell ist auch nicht der einzige, der gemeinsame Strukturen in den Geschichten der Menschheit gefunden hat. Der amerikanische Journalist Christopher Booker hat seinerseits in The Seven Basic Plots sieben Handlungsschemata herausgearbeitet, die er ebenfalls in allen Kulturen und Epochen wiederfindet. Vom vor allem in Disney-Filmen sehr häufig eingesetzten Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär, über die Comeback-Story und die Suche, bis hin zum Monster, das besiegt werden muss – sie alle haben eines gemeinsam: Sie zeigen die psychische Entwicklung des Menschen. Sie zeigen uns. Das ist etwas, womit wir uns identifizieren können – und das scheinbar seit vielen tausend Jahren. Geschichten funktionieren also so gut, weil sie uns Aspekte bieten, die wir auf uns selbst beziehen können –und genau das ist in digitalen Lernangeboten besonders nützlich.

Storytelling als Anreiz
Storytelling ist aus mehreren Gründen ein effektives Lehr- bzw. Lernmittel: Komplexe Daten, Informationen und Zusammenhänge werden möglichst realitätsnah dargestellt und verdeutlicht, und auch emotionale Impulse können den Aufnahmeprozess von Informationen unterstützen. Storytelling sorgt außerdem für eine verbesserte Erfahrung mit dem jeweiligen Medium. Das wird deutlich, wenn man einen Blick in den Videospiel-Bereich wirft. Niemand würde hier auf die Idee kommen, einfach nur eine grafisch verbesserte Version von Pong zu produzieren, da für ein packendes Spielerlebnis eben auch eine fesselnde und überzeugende Handlung wichtig ist. Das entscheidenste Argument für Storytelling ist jedoch, dass es das Interesse am Medium wecken kann – egal, ob es sich dabei um einen Film, ein Videospiel oder ein Lernprogramm handelt. Das ist im E-Learning besonders hilfreich, da hier häufig Themen behandelt werden, die an und für sich erst einmal nicht besonders spannend sind. In vielen Fällen findet das Training außerdem nicht auf komplett freiwilliger und intrinsisch motivierter Basis statt. Wer seine LernerInnen trotzdem für sich gewinnen, ihr Interesse wecken und sie zum Lernen motivieren will, fängt sie am besten, indem er ihnen eine gute Geschichte liefert.

Aber was genau ist das eigentlich – eine gute Geschichte? Hier lohnt sich ein Blick auf die einschlägigen Filmbewertungs-Websites. Vergleicht man dort die Rezensionen der gut bewerteten Filme, kristallisieren sich die immergleichen Begriffe heraus. Die RezensentInnen sprechen von authentischen Figuren, mit denen sie sich identifizieren können, und von realistischen Geschichten, die echte Gefühle vermitteln. Doch welche Figuren werden als authentisch wahrgenommen, und warum? Blicken wir dafür nach New York – genauer gesagt in den Stadtteil Queens. Dort vertreibt seit den frühen 1960er Jahren Peter Parker unter dem Alias Spiderman von Haus zu Haus schwingend das Unrecht im Viertel. Und obwohl er aufgrund seines jugendlichen Alters, seiner Konnotation mit krabbeligen Spinnentieren und seines nerdigen Charakters gegen einige damals herrschende Comic-Gesetze verstößt, etabliert er sich sehr schnell zum Fanliebling und ist bis heute eine nicht wegzudenkende Figur in Comic, Film und Fernsehen. Sein Erfinder Stan Lee erklärt dies so: “I think there were a lot of reasons. I think perhaps the main reason was, that I can relate to him. Cause he was shy, he wasn’t that successful with girls, he had to worry about his family. I think most teenagers reading it thought to themselves, That could be me!“

Spiderman bietet einer sehr großen Gruppe an Menschen ein sehr großes Identifikationspotential, da er die gleichen Ängste, Wünsche und Träume hat wie sie. Doch was geschieht, wenn es um Figuren geht, mit denen wir erst einmal überhaupt nichts gemeinsam haben? Das ist im 2013 erschienenen Film Gravity der Fall. Hier sind die Hauptfiguren allesamt AstronautInnen auf einer Raumstation. Zwar ist das Setting Weltall prinzipiell spannend, da unbekannt, aber hier liegt gleichzeitig auch die Krux: Die wenigsten von uns können sich mit AstronautInnen und deren Aufgaben und Lebenssituation identifizieren – eine denkbar schlechte Voraussetzung für einen Film, in dem der Großteil der Handlung auf der Raumstation stattfindet und den drei gleichen Figuren folgt. Gelöst wird dieses Problem bereits in den ersten Minuten der Handlung. Hier müssen die AstronautInnen das Hubble-Teleskop reparieren und führen dabei lebhafte Gespräche, in denen es um Musik, Hobbies und den anstehenden Feierabend inklusive wohlverdienter Drinks geht. Und plötzlich haben wir etwas mit diesen Figuren gemeinsam – trotz Weltall und hochwissenschaftlichem Hintergrund. Es hätte in diesen ersten Minuten auch um technische Aspekte der Arbeit gehen können, die zwar faktisch richtig gewesen wären, die aber kaum jemand verstanden hätte. Stattdessen wurden bewusst Themen gewählt, mit denen sich die ZuschauerInnen identifizieren können.

Und genau das ist auch das Ziel von E-Learning. Die LernerInnen sollen sagen können: „In dieser Figur sehe ich mich, diese Situation kenne ich und es ergibt Sinn, mich mit diesen Themen auseinander zu setzen und diese Informationen zu lernen.“

Anwendungsmöglichkeiten in Lernformaten
Natürlich funktioniert E-Learning anders als ein Film oder ein Roman von Stephen King. Uns bleiben keine Wochen oder gar Monate, um an unserem Drehbuch zu feilen und uns über Figurenentwicklung, Worldbuilding oder Foreshadowing den Kopf zu zerbrechen. Falsch angewendet können Geschichten außerdem vom Lerninhalt ablenken, statt ihn zu unterstützten. So spannend ein Training, das auf einem Piratenschiff spielt, im ersten Moment auch klingen mag, das Thema Datenschutz ergibt dort nur wenig Sinn. Deshalb müssen Geschichten gezielt angewendet werden, die nötige Technologie muss für die Umsetzung gegeben sein und auch die Lernmechanik muss zur Geschichte passen. Am Ende beeinflussen sich all diese Aspekte gegenseitig und ergeben so ein funktionierendes Großes und Ganzes.

Um das zu erreichen, werfen wir erneut einen Blick auf den Videospiel-Bereich. Hier ist die sogenannte Chain of Pearls eine beliebte Design-Methode, um Storytelling und Interaktivität miteinander zu verbinden und eine Balance zwischen diesen beiden Aspekten herzustellen. Im E-Learning eingesetzt bedeutet diese Methode, dass LernerInnen zu Beginn des Trainings ein Versprechen gemacht wird: Du wirst hier etwas lernen, das du wirklich lernen möchtest, und das den Zeitaufwand tatsächlich wert ist. Die Perlen sind die Aufgaben und Aktivitäten, die das Lernziel herbeiführen; es sind Skills, die die LernerInnen sich aneignen und Challenges und Hürden, die sie überwinden müssen. Die Kette wiederum besteht aus den Story-Elementen, die das Versprechen zu Beginn und die Aktivitäten mit dem Ziel verbinden. Sie ist die Möglichkeit, Dialog zu präsentieren, mit dem die LernerInnen sich identifizieren können, und eine lineare Erzählung zu implementieren, über die sie im Training weitergeführt werden. In diese Perlenkette lassen sich die bereits besprochenen Handlungsschemata von Booker oder einzelne Aspekte der Heldenreise geschickt einweben. Wird den LernerInnen zu Beginn des Trainings zum Beispiel versprochen, dass sie die Welt besser machen, indem sie etwas zum Thema Energiemanagement lernen, dann bieten wir ihnen gleichzeitig ein Monster mit Namen Klimawandel, das es aufzuhalten gilt. Der Reise mag gespickt sein mit Hürden und Aufgaben, doch das Ziel bleibt immer klar im Blick.

Noch effektiver funktioniert eine Geschichte, wenn wir den LernerInnen eine MentorInnenfigur an die Seite stellen. Diese kommt aus dem Kontext, der im Training abgebildet wird und kennt sich mit all den Herausforderungen und Themen aus, auf die die LernerInnen stoßen. In Filmen und Erzählungen sind diese Figuren häufig alte Männer mit weißem Bart und spitzem Hut; im E-Learning haben wir es meist mit AusbilderInnen und SpezialistInnen zutun, die durch das Training leiten und an den richtigen Stellen Feedback oder Ratschläge geben und die LernerInnen unterstützen.

Fazit in wenigen Sätzen
Geschichten zu hören und zu erzählen liegt in der Natur des Menschen. Wir benutzen sie seit Jahrtausenden, um wichtige Informationen weiterzugeben. Dafür müssen wir lediglich das zeigen, was alle Menschen gemeinsam haben: Uns, ganz so, wie wir nun einmal sind. Im E-Learning bedeutet das, dass wir den LernerInnen ein möglichst großes Identifikationspotential bieten und erfolgreich auf dem schmalen Grad zwischen Storytelling und Interaktivität balancieren. Und wenn die LernerInnen sagen können: „Hey, das könnte ich sein!“, dann sind sie dem Lernziel bereits einen großen Schritt näher gekommen.

Weiterführende Literatur

  • Booker, Christopher: The Seven Basic Plots. Why we tell stories. Bloomsbury 2004.
  • Campbell, Joseph: The Hero with a Thousand Faces. New World Library 2008.
  • Snyder, Blake: Save the Cat! The last book on screenwriting that you’ll ever need. Michael Wiese Productions 2005.